Links sein schützt vor Sexismus nicht

Ausgerechnet die Linke! Ausgerechnet eine feministische Partei hat ein Problem mit Sexismus! Sieh an! Als ein Sexismus-Skandal in der hessischen Linken vor Kurzem nicht nur ein strukturelles Problem innerhalb der Partei offenlegte, sondern auch den jahrelang mangelhaften Kampf gegen Sexismus in den eigenen Reihen, war die – teils von Häme, teils von Empörung dominierte – Verknüpfung nicht weit: Sexismus in der Linken, so schien es, ist besonders schlimm, weil er in einer Partei auftritt, die Gleichberechtigung als Pfeiler ihrer Politik sieht. So naheliegend der Gedanke ist: Er führt auf einen Nebenschauplatz. Denn er problematisiert in erster Linie linke Doppelmoral – und nicht Sexismus.

Auf Doppelmoral in der Politik reagieren Wähler besonders sensibel, weil sie – zu Recht – erwarten, dass die Ansprüche, die Politiker stellen, von ihnen selbst eingehalten werden. Insbesondere dann, wenn es jene Politiker betrifft, die sehr offensiv für ein Thema eintreten. Dabei geht es meist um Dinge, die bei genauerer Betrachtung eher Petitessen sind: Wenn ausgerechnet eine Bildungs- und Forschungsministerin ihren akademischen Titel wegen unsauberen Arbeitens zurückgeben muss, wiegt das besonders schwer. Neben-eheliche Kinder sind vor allem für jene Politiker problematisch, die für das traditionelle Familienbild eintreten. Und es kommt nicht gut an, wenn ausgerechnet Politiker, die oft und gerne höhere Steuern für Besserverdienende fordern, das Finanzamt über ihren Zweitwohnsitz im Unklaren lassen.

Doch spätestens wenn jemand zu Schaden kommt, sollte die Empörung über Doppelmoral nicht die über das Vergehen als solches überlagern. Das ist etwa der Fall, wenn sich Politiker Corona-Impfungen auf Kosten vulnerabler Personen erschleichen. Und auch wenn Frauen sich in einer laut Selbstbeschreibung feministischen Partei nicht vor Übergriffen sicher fühlen können. Doch ist der Sexismus in der Linken dadurch nicht verdammenswerter. Oder, anders gesagt: Das Problem in anderen Parteien wird dadurch nicht weniger schlimm.

Der Gedanke, dass ein Geschlecht dem anderen von Natur aus überlegen ist und Diskriminierung, Unterdrückung, Abwertung und Benachteiligung dadurch irgendwie gerechtfertigt sind, hat in Deutschland keinen Platz mehr. Soweit die Theorie. Doch jahrtausendalte Strukturen lassen sich nicht einfach aufbrechen. Zur Erinnerung: Es ist erst 25 Jahre her, dass Vergewaltigung in der Ehe als Tatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Bei der Abstimmung im Bundestag stimmten 138 Abgeordnete von CDU, CSU und FDP dagegen – auch Frauen.

Sexismus gibt es noch heute in unterschiedlichen Ausprägungen in jeder Partei – und das ist in jeder Partei gleichermaßen problematisch. Bei CDU und FDP – von der AfD mal ganz zu schweigen – sind die Probleme vielleicht offensichtlicher. Wer aber geglaubt hat, linke Parteien seien immun, war naiv.

Selbst die Grünen – die Partei, die ihre Wurzeln in der Frauenbewegung hat und ohne deren Hartnäckigkeit viele Errungenschaften in der Gleichstellungspolitik sehr viel später gekommen wären – sind nicht frei von Sexismus. Die Regierungszeit von Gerhard Schröder und Joschka Fischer gilt heute als Ära der Machos, in der weibliche Kabinettsmitglieder kaum zu Wort kamen und Frauenpolitik unter „Gedöns“ firmierte. Die Anfänge der Linkspartei fallen in jene Zeit.

Nachdem die SPD, 16 Jahre nach Ende der Ära Schröder, bei der Bundestagswahl im Herbst wieder stärkste Kraft geworden war, befürchteten viele sozialdemokratische Frauen, dass die gesamte Staatsspitze – Bundespräsident, Bundestagspräsident, Kanzler – männlich besetzt werden könnte. Der amtierende Bundeskanzler Scholz hatte sich im Wahlkampf als Feminist bezeichnet, man kann ihm getrost Problembewusstsein unterstellen. Doch trotz Lippenbekenntnis hat die SPD es versäumt, Frauen in dem Maße politisch aufzubauen wie Männer. Verwunderlich? Absolut nicht. Die Sozialdemokraten haben fast 155 Jahre gebraucht, um eine Frau an ihre Spitze zu wählen – und nach außen dominieren noch immer Männer die Partei. Problembewusstsein allein schützt nicht vor verfehlter Politik.

Die Linke will Konsequenzen aus ihren eigenen Verfehlungen ziehen. Auf dem Parteitag im Juni soll der gesamte Vorstand neu gewählt werden. In der vergangenen Woche hat die Partei eine Expertinnen-Kommission eingerichtet, an die sich Betroffenen wenden können. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Maßnahmen ausreichend sind und so ausfallen, wie man sie sich von einer Partei wünschen kann. Nicht explizit von einer feministischen Partei, sondern von einer Partei in einem demokratischen, liberalen und fortschrittlichen Land, als das sich Deutschland selbst sieht. Denn Parteien sind nur der Spiegel ihrer Gesellschaft.

Der Text erschien zuerst in leicht gekürzter Form in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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